Literatur

Moment mal, wo ist der Zusammenhang zwischen Literatur und Baustoffen? Baustoffe sind doch Physik, Chemie, Normung … kurz: Technik! Ja stimmt, und den naturwissenschaftlichen Ansatz in dieser Bewertung möchten wir nicht nur unterstützen, sondern auch betonen. Wir erklären physikalische und chemische Zusammenhänge gern, wo es uns möglich ist.
Wenn wir aber „zukünftig“ bauen wollen, brauchen wir (auch) Kultur, neue soziale Zusammenhänge, Entwürfe und Kreativität. Das Material kann uns etwas erzählen, wir können es inszenieren und wertschätzen.
Material schafft Resonanz

Literatur nutzt Baustoffe, um Atmosphäre für die Charaktere zu schaffen. Durch stählern-gläsernen Ret­tungs­stationen, gepflegten Dielen­böden, kuscheligen Teppichen und eng­stehendem Fach­werk­balken, bröckeln­den Mauern, polierten Möbeln übersetzen wir die Bau­stoffe in Stimmungen. Als Leser:innen haben wir ein Gefühl für dafür, wie Bau­stoffe bau­physikalisch wirken.. Wir wissen ganz intuitiv: Glas und Stahl sind kühle Materialien, bröck­elnden Mauern ein Zeichen von schlechter Wartung, Holz ist einfach urig.

Fachliteratur für alle

Literatur kann auch die Fom gut recherchierter und an­schaulich be­schriebener Po­pulär­wis­sen­schaft an­neh­men. Vereinfachte Sachbücher können technische Zusammenhänge näherbringen und den Stand des Wissens in die Breite bringen. Je nach Ausprägung, können sie die Entstehung von Baustoffen, Funktionen von Ökosystemen oder den Einsatz von Pestiziden erklären und sachlich wis­sen­schaf­tlich darlegen. Wir brauchen einfache Über­setzungen aus Technik und wir brauchen Ideen und Visionen.

Danke Herrmann Fischer (Farben­chemie), Peter Wohlleben (Bäume) und -vor allem Rachel Carson (Chemie, Öko­systeme und Pestizide)

Literatur rührt

Literatur kann also rühren, beschreiben, eröffnen, dokumentieren, appellieren, transformieren. Sie schafft Kultur und Phantasie auch für Wohnatmosphäre über den Farbfächer hinaus und kann die technischen Qualitäten der Baustoffe verständlich und sinnlich übermitteln.

Zwei Schriftstellerinnen des 20. Jahr­hun­derts sind die Namens­geber:innen dieses Natur­bau­stoff­han­dels:

Carson McCullers:
Wo ist die Grenze zur unaushaltbaren Kargheit des Raums?

Carson McCullers Räume sind so karg ausgestattet, wie auch ihre Charaktere gesellschaftlich oder persönlich veranlagt sind. Die Einfachheit des Lebens ist in den räumlichen Entwurf „der Wohnungen und der Straßen“ eingegangen. Für Leser:innen fühlt sich die bauliche Szenerie nicht nur beklemmend, sondern heute wohl auch auf getrübt-nostalgische Art und Weise angenehm überschaubar an. Wo ist die Grenze zwischen wohnlich-ruhig und karg-beklemmend. Brauchen wir die Dinge um uns herum?

Divers, wie wir sind. Schaffen wir es gemeinsam?

McCullers Charaktere sind in ihrer gesellschaftlichen Stellung sowie in ihrer körperlichen und seelischen Veranlagung so unterschiedlich wie das Leben. Die Hauptpersonen verbergen sich meist am prekären Rand der Gesellschaft bzw. sind so unterschiedlich wie Gesellschaft eben ist. In ihrer Unterschiedlichkeit steckt auch eine gegenseitige indirekte Anerkennung. Die Romanfiguren verhalten sich passiv miteinander in der Begegnung auf dem Gehweg oder im Café. Alles läuft dem unausweichlichen Schicksal, dem kleinen Versuch und kleinen Scheitern entgegen Ein jeder so wie er eben (nicht) kann.

Es fühlt sich manchmal so an, als wenn diese Veranlagung des sozialen „Nebeneinanders“ allen Aktionismus dämpft, als wenn einzelne nichts anrichten könnten und die Zügel der Präexposition strammgezogen sind. Die vielen individuellen Unterschiede scheinen keine gemeinsame Stärke ergeben zu wollen. Eine Analogie zu Gesellschaften heute und ihrer Motivation Zukünfte zu schaffen.

 

Rachel Carson:
Aktivität, Assoziationen und Verbindungen

Ganz anders bei Rachel Carson! Sie schafft Aktivität. Sie erzählt mit Prosa Wissenschaft und zeigt Zu­sam­men­hän­ge auf. Gegen die Zeichen der Zeit und im An­ge­sicht der Dringlich­keit nutzt sie ihr Talent. Sie bringt Fakten mit Er­lebnissen und E­rfahrungen zusam­men. Sie beschreibt das Zwitschern der Vögel, das Blühen der Weges­ränder, das Öko­system Wermut-Steppe. Und setzt der Fülle die un­be­grenzte und un­kontrollierte Euphorie des treu­dummen Pestizid­einsatzes entgegen. Die wissen­schaft­liche Basis ist durch ein breites Netzwerk gesichert und durch ihren Schreib­stil in der Breite öffentlich­keits­wirksam. Wenn man dieses Buch heute liest, weiß man, dass der Pestizid­ein­satz (auch durch ihr Werk) ein­gedämmt worden ist und daraufhin Umwelt­be­wegungen und -behörden gegründet worden sind. Man entwickelt anhand des Buchs durch die Kraft der Sprache gedankliche Bilder und Zu­sam­men­hänge von Öko­systemen. Man liest aller­dings zugleich von Öko­systemen, die man als 1984 Geborene nie kennen­lernen konnte. Wie es der zu­künftigen Generation wohl ergehen wird?